In den letzten Stunden sorgt ein Thema für Diskussion, das polarisiert wie kaum ein anderes: Der Eurovision Song Contest – sonst ein Fest der Musik und Vielfalt – ist in eine moralische Debatte geraten, die weit über Noten und Bühnenoutfits hinausgeht.
Der österreichische Sänger Johannes „JJ“ Pietsch, frisch gebackener ESC-Gewinner, hat in einem Interview seine Enttäuschung über etwas zum Ausdruck gebracht:
„Ich bin sehr enttäuscht, dass Russland ausgeschlossen wurde, aber Israel nicht. Beide sind kriegerische Aggressoren. Beide haben aktiv versucht, es zu provozieren, was sehr enttäuschend ist. Es liegt nicht in meiner Macht, aber wenn es nach mir ginge, hätte ich beide ausgeschlossen.“
Nach Kritik an seinen Äußerungen veröffentlichte JJ über sein Musiklabel Warner Music eine Stellungnahme, in der er erklärte: „Es tut mir leid, wenn meine Worte missverstanden wurden. Obwohl ich die israelische Regierung kritisiere, verurteile ich jede Form von Gewalt gegen Zivilisten überall auf der Welt – sei es gegen Israelis oder Palästinenser.“
Seine Worte haben Wellen geschlagen. Von links und rechts hagelt es Kritik, es wird emotional, hitzig, teilweise unsachlich. JJ selbst hat seine Aussage inzwischen abgeschwächt – und das ist schade, denn die Diskussion hätte eine ernsthafte Auseinandersetzung verdient.
🧠Erst denken, dann reden – oder besser: Erst nachdenken, dann reden
Gerade in Österreich scheint es zur Tradition zu gehören, bei Israel-Kritik sofort in Extreme zu verfallen: Entweder vollständige Solidarität oder vollständige Ablehnung. Dazwischen bleibt wenig Platz für Reflexion.
Ich will diesen Raum aufmachen – wissend, dass ich mir damit nicht nur Freunde mache. Ich bezeichne mich selbst als links, aber genau deshalb sehe ich mich in der Verantwortung, unbequeme Wahrheiten auch dann anzusprechen, wenn sie gegen die eigene Bubble gehen.
⚖️ Zwei Kriege – zwei Maßstäbe?
Es gibt Unterschiede zwischen dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine und Israels Krieg gegen die Hamas:
- Russland griff ein souveränes Land grundlos an.
- Israel reagierte auf den brutalen Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober.
Und ja, die Hamas ist eine Terrororganisation – keine Regierung im klassischen Sinne. Doch was Israel seitdem im Gazastreifen tut, ist nicht mehr nur Vergeltung. Es ist kollektive Bestrafung, unter der vor allem Zivilist*innen, Kinder, Alte, Verwundete und Schutzbedürftige leiden.
Was unterscheidet einen „Vergeltungskrieg“ von einem „Genozid“?
Die Frage ist schwer zu beantworten – aber sie sollte nicht länger tabu sein. Wer die Shoah ernst nimmt, muss sich auch trauen, heutige staatliche Gewalt kritisch zu hinterfragen – auch wenn sie von einem Land ausgeht, dessen Vorfahren selbst Opfer unfassbarer Gewalt waren.
🚫 Antisemitismus – aber bitte richtig unterscheiden!
Kritik an Israels Regierung ist nicht automatisch Antisemitismus.
Die Gleichsetzung schadet allen – dem öffentlichen Diskurs, den jüdischen Gemeinden weltweit, den palästinensischen Opfern – und letztlich auch Israel selbst, weil es jeden kritischen Spiegel im Namen des Selbstschutzes zerschlägt.
„Nie wieder“ darf nicht zur exklusiven Parole für die eigene Vergangenheit werden –
„Nie wieder“ gilt für alle. Immer. Überall.
🕊️ Sanktionen als letztes Mittel?
Die Frage, ob Israel vom ESC ausgeschlossen werden sollte, ist eine symbolische. Aber Symbole haben Wirkung. Russland wurde nicht nur wirtschaftlich, sondern auch kulturell isoliert – in der Hoffnung, dass sich das Regime nicht ewig halten kann, wenn der Druck steigt.
Warum sollte das bei Israel anders sein?
Sanktionen richten sich immer auch gegen das Volk.
Aber sie sind ein Mittel, um ein Umdenken auf politischer und gesellschaftlicher Ebene zu bewirken. In Russland wie in Israel.
Wenn wir bei Menschenrechtsverletzungen mit zweierlei MaĂź messen, verlieren wir unsere GlaubwĂĽrdigkeit.
🎤 JJ hatte recht – und hat zurückgerudert. Leider.
Dass JJ nun auf Druck zurückgewichen ist, zeigt, wie wenig Raum es für differenzierte Kritik gibt – besonders wenn es um Israel geht. Dabei brauchen wir mehr solcher Stimmen. Stimmen, die keine Feindbilder bedienen, aber Missstände beim Namen nennen.
Die Uhr tickt. Für Gaza. Für das Völkerrecht. Für unsere moralische Glaubwürdigkeit.
Wenn der ESC ein Ort für Frieden, Diversität und kulturellen Dialog sein will, muss er sich dieser Debatte stellen.
Vielleicht ist er nicht das richtige Mittel – aber vielleicht ist er das einzige, das die Welt gerade noch hört.
P.S. an all jene, die meinen: „Musik solle unpolitisch bleiben“:
„Dieser Satz ignoriert etwa 2.000 Jahre Musikgeschichte – von politischen Liedern im antiken Griechenland über Protest-Songs gegen Apartheid und Vietnamkrieg bis zu antifaschistischen Punkbands. Musik war schon immer ein Spiegel und ein Werkzeug gesellschaftlicher Kämpfe.“
Diskutieren wir. Sachlich. Empathisch. Aber ohne Scheuklappen.